Der Begriff Anorexie bedeutet im ursprünglichen Wortsinn »Appetitlosigkeit«, was eine unzutreffende Beschreibung ist. Die deutsche Bezeichnung Magersucht beschreibt das Phänomen besser, da das zentrale Merkmal der Wunsch nach übertriebener Schlankheit verbunden mit extremer Angst vor einer Gewichtszunahme ist. Teilweise wird auch der Begriff Pubertätsmagersucht verwendet, was auf das Lebensalter der meisten Betroffenen verweist.
Diagnose-Kriterien
- Das Körpergewicht liegt mindestens 15 % unter dem erwarteten, altersentsprechenden Gewicht (BMI unter 17,5). Es kann sich entweder um Gewichtsverlust oder um ein nie erreichtes Gewicht handeln.
- Die Beeinflussung des Körpergewichts erfolgt durch extreme Nahrungsreduktion, durch übertriebene sportliche Aktivität, u.U. auch durch Appetitzügler- und Diuretikamissbrauch (Entwässerungsmittel) und selbst induziertes Erbrechen.
- Gewicht und Figur werden verzerrt wahrgenommen. Die Betroffenen erleben sich selbst noch bei Untergewicht als zu dick. Sie können die eigene Figur nicht realistisch wahrnehmen.
- Es besteht eine intensive Angst, zuzunehmen.
- Die Menstruation bleibt in drei aufeinander folgenden Zyklen aus (sekundäre Amenorrhoe) bzw. bei Beginn vor der Pubertät werden die pubertären Entwicklungen verzögert oder gehemmt, die Menarche tritt nicht ein (primäre Amenorrhoe).
Typus-Spezifizierung
a) konsequent nahrungsverweigernder Typ (restriktiver Typ)
b) periodisch Heißhungeranfälle oder kompensatorische Maßnahmen zur Gewichtsregulierung (bulimischer Typ, auch purging-Typ genannt)
Die Magersucht ist die älteste der derzeit bekannten Essstörungen; als eigenständiges Krankheitsbild existiert sie seit ungefähr 100 Jahren.
- Wenngleich die Forschungsergebnisse kein einheitliches Bild abgeben, geht man davon aus, dass ca. 1 bis 2 % der Mädchen und jungen Frauen betroffen sind und bei weiteren 4 % leichtere Symptome feststellbar sind. Die Zahl der Magersüchtigen bzw. derjenigen, die deshalb eine Therapieeinrichtung aufsuchten, hat sich im letzten Jahrzehnt deutlich erhöht.
- Eine extrem erhöhte Auftretenswahrscheinlichkeit ist bei Ballettschülerinnen, Kunstturnerinnen, Eiskunstläuferinnen etc. zu beobachten.
- Magersucht kann bereits ab dem 10. Lebensjahr auftreten, der Erkrankungsgipfel liegt bei 17 Jahren. Magersucht ist mitunter aber auch in späteren Lebensjahren beobachtbar.
- 95 % aller Magersüchtigen sind weiblich.
- Magersüchtige gehören mehrheitlich der oberen Mittelschicht an.
Symptomatik
- Magersüchtige sind leistungsorientiert, haben oft hohe Ansprüche an ihre schulischen Erfolge (was sich allerdings im späteren Verlauf ändern kann), sind oft überdurchschnittlich begabt. Sie leiden dennoch oft unter Versagensängsten und erleben insofern die Kontrolle über ihr Gewicht als Leistung.
- Ihr zwanghaftes Bestreben, immer weiter an Gewicht abzunehmen, bringt sie auch zu motorischen Hochleistungen. Ziel ist, durch exzessiven Sport Kalorien zu verbrennen und abzunehmen. Die Waage wird zur wichtigsten Kontrollinstanz.
- Trotz weitgehender Essensverweigerung kreisen die Gedanken unablässig um Essen und Kalorien (viele lesen z.B. ständig Kochbücher). Sie bekochen gerne andere und animieren sie regelrecht zu essen. Gerade durch ihre intensive Beschäftigung mit Essen fällt es anfangs oft gar nicht auf, dass sie selbst nicht mitessen.
- Sie selbst nehmen nur niederkalorische Nahrung zu sich (z.B. eine Möhre, Apfel), haben insbesondere vor allem Fetthaltigen regelrecht Panik.
- Magersüchtige verlieren die Fähigkeit, auf Körpersignale angemessen zu reagieren. Hungergefühle, Temperaturreize oder Müdigkeit (auch sexuelle Empfindungen) werden unterdrückt oder kaum wahrgenommen. Der erlebten Schwäche begegnen sie sogar mit besonderer Härte und vermehrten sportlichen Anstrengungen.
- Es werden oft ausgeprägte Zwänge und Rituale beobachtet, die sich meist, aber nicht nur auf Essenssituationen beziehen (z.B. nur Speisen einer bestimmten Farbe zu sich nehmen).
- Anfänglich wird die Magersucht von euphorischen Gefühlen begleitet, die Fähigkeit, auf Essen verzichten zu können, führt zu Überlegenheitsgefühlen. Dadurch wirken die Mädchen mitunter arrogant und isolieren sich schließlich. Je mehr jedoch der körperliche Verfall voranschreitet, desto mehr sind depressive Symptome bis hin zu Suizidgedanken zu beobachten.
- Magersüchtige reagieren sehr empfindlich auf Zurückweisung und sind sehr streng mit sich und anderen. Häufig können sie eigene Gefühle nicht beschreiben.
- Das starke Untergewicht wird häufig durch weite oder mehrschichtige Kleidung kaschiert.
- Magersüchtige zeigen oft bis zum körperlichen Zusammenbruch keine Einsicht in die Bedrohlichkeit ihres Zustands. Sie verleugnen (nach außen) die körperlichen und seelischen Signale. Ihr Selbstwert und ihre Identität scheinen nur noch an ihr Gewicht gekoppelt zu sein, und eine Gewichtszunahme käme insofern einem Verlust ihres Selbst gleich.
Magersucht ist sozusagen die einzig wirksame Methode, die Pubertät aufzuhalten oder gar umzukehren. Erwachsenwerden und sexuelle Gefühle scheinen für diese Mädchen also bedrohlich und unaushaltbar zu sein.
Die körperlichen Folgeschäden sind gravierend und treten teilweise bereits schnell nach Beginn der Magersucht auf. Insbesondere sind zu nennen:
- Ausbleiben der Menstruation, sofern nicht hormonelle Verhütungsmittel eingenommen werden.
- Anhaltende Menstruationsstörungen, Störungen der Fruchtbarkeit.
- Osteoporose, wobei die Gefahr steigt, je früher die Amenorrhoe nach der Menarche (erste Periode) einsetzt und je länger die Magersucht andauert.
- Allgemeiner Kräfteverfall und Auszehrung, häufiges Frieren.
- Herz-Kreislauf-Störungen, Ohnmachtsanfällen, verlangsamte Herzfrequenz, Schrumpfung des Herzmuskels, Störungen im Magen-Darm-Bereich, Nierenschäden, Elektrolytstörungen.
- Trockene, schuppige Haut, flaumartige Behaarung (Lanugobehaarung – Ganzkörperbehaarung), Kopfhaarausfall, brüchige Nägel.
- Ca. 5 % der Betroffenen sterben an den unmittelbaren oder langfristigen Folgen ihrer Magersucht. Diese Zahl steigt deutlich an, wenn keine Behandlung aufgenommen wird.
Magersucht ohne therapeutische Behandlung zu überwinden, scheitert in der Mehrzahl der Fälle. Selbst wenn sich das Gewicht wieder auf ein ungefährliches Maß erhöht, bleiben die psychischen Begleiterscheinungen erhalten. Wird aber eine Behandlung aufgenommen, so werden
- für 50 % gute Heilungschancen,
- bei 30 % zumindest eine Besserung,
- bei 20 % jedoch eine Chronifizierung der Symptomatik beschrieben.
VGL. DAZU INSGESAMT DHS 1997,
KRÃœGER U.A. 1997, STAHR U.A. 1995
Auszug aus:
Nichts leichter als Essen?! – Essstörungen im Jugendalter
Eine Handreichung für Schule und Jugendarbeit; Stuttgart 2000, 64 S.
Herausgeber: Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden Württemberg
Autorinnen: Dagmar Preiß; Anja Wilser, Mädchengesundheitsladen